




Zunächst berichtete der SPD-Landtagsabgeordnete Ralf Borngräber über entsprechende Änderungen im Niedersächsischen Schulgesetz. „Die inklusive Bildungspolitik hängt in Niedersachsen gegenüber vielen anderen Bundesländern zurück. Nur knapp fünf Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden momentan an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet“, so Borngräber. Erst am 23.03.2012 hat der Niedersächsische Landtag das Gesetz zur Einführung der inklusiven Schule verabschiedet. Das Gesetz legt fest, dass alle öffentlichen Schulen in Niedersachsen grundsätzlich inklusive Schulen sind. Allen Kindern mit und ohne Behinderung ist ein barrierefreier und gleichberechtigter Zugang zu gewährleisten. Die Eltern haben einen Rechtsanspruch, die Schulform für ihr Kind wählen zu können. Aufsteigend in der 1. Klasse der Grundschule kann die Inklusion ab dem Schuljahr 2012/2013 eingeführt werden. Verpflichtend ist sie ab dem Schuljahrgang 2013/2014 in den Klassen 1 und 5 aller allgemeinbildenden Schulen.
Eltern müssen ihr Kind mit dem Förderschwerpunkt Lernen dann an der zuständigen Grundschule anmelden. Förderschulen mit den Schwerpunkten Sprache, emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen und Hören bleiben weiter bestehen. Eltern von Schülerinnen und Schülern mit diesen Förderschwerpunkten können aber wählen, ob ihre Kinder eine allgemeine oder eine Förderschule besuchen sollen.
Die Grundschulen werden schrittweise (aufsteigend beginnend mit dem 1. Schuljahrgang) mit einer sonderpädagogischen Grundversorgung (2 Förderschullehrerstunden/Förderschüler) ausgestattet. Schülerinnen und Schüler, die am 31.07.2012 den Primarbereich einer Förderschule im Schwerpunkt Lernen besuchen, können dort weiter unterrichtet werden, bis sie den Primarbereich verlassen. Für die Förderschwerpunkte geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen und Hören dürfen die Schulträger vorübergehend Schwerpunktschulen bilden. Dabei ist zu gewährleisten, dass Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung wenigstens eine inklusive allgemeine Schule der gewählten Schulform (mit Ausnahme der Gesamtschule) in zumutbarer Entfernung erreichen können. Diese muss nicht zwingend im Gebiet des Schulträgers liegen. In den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung können im Primarbereich keine Schwerpunktschulen bestimmt werden.
In seinen weiteren Ausführungen äußerte sich Ralf Borngräber kritisch zu einigen Details im Schulgesetz. Die angestrebte Höchstzahl von 22 Schülerinnen und Schülern pro Inklusionsklasse wird in der Praxis kaum durchzuhalten sein. Erfordert sie doch bei Berücksichtigung aller Förderschwerpunkte einen Zusatzbedarf von 12.000 Lehrerstellen. Auch das momentan vorgesehene Zusatzkontingent von zwei Lehrerstunden pro Förderschüler ist in keinem Maße ausreichend. In vielen Regionen fehlen entsprechende Förderschulen und es herrscht bereits jetzt ein großer Mangel an Förderlehrkräften. Diese Situation wird sich auch in nächster Zeit nicht ändern, da die Lehrerausbildung noch in keiner Weise auf die neuen Anforderungen des inklusiven Unterrichts ausgerichtet ist.
Als nächster Redner nahm der Rektor der Visselhöveder Oberschule Herr Gerhard Dyck Stellung zum Thema Inklusion in der Schule. Auch er kritisierte das bisher sehr auf Selektion ausgerichtete Schulsystem in Niedersachsen. Inklusion fordert die individuelle Sicht auf jeden Schüler und zwar wesentlich spezieller als es bereits in vier Integrationsklassen an der Oberschule praktiziert wird. Da hier aber bereits Erfahrungen seitens der Schule und der Lehrkräfte vorliegen, sieht er seine Schule für die sich nun aus dem neuen Schulgesetz ergebenden Forderungen zur Inklusion grundsätzlich gerüstet. Allerdings bedarf es dazu bestimmter Grundvoraussetzungen in der räumlichen, sächlichen und personellen Ausstattung der Schule.
Die räumlichen Voraussetzungen sind in Visselhövede nicht problematisch. Es stehen ausreichend Klassenräume unterschiedlicher Größe sowie Fachräume zur Verfügung.
Die sachlichen Voraussetzungen werden immer wieder neu zu definieren sein, da sie sich sehr individuell nach dem aktuellen Bedarf der Behinderten ausrichten. Allerdings sind gewisse Investitionen im Hinblick auf Barrierefreiheit, z.B. ein Fahrstuhl, automatische Türen usw. bereits jetzt voraussehbar. Die bereits begonnenen Lärmschutzmaßnahmen in den Klassenräumen müssen fortgesetzt und auch in der Pausenhalle durchgeführt werden. Für die Stadt als Schulträger werden dafür erhebliche Kosten entstehen.
Für die personellen Voraussetzungen ist das Land Niedersachsen in der Pflicht. Hier hat Rektor Dyck ebenfalls die größten Bedenken. Es ist im höchsten Maße fraglich, ob es gelingt, notwendiges Fachpersonal in ausreichendem Maße bereitzustellen. Dazu müsste die Grundausbildung der Lehrer umgehend umgestellt und den Erfordernissen angepasst werden.
Die Schule wird sich zukünftig immer wieder neu orientieren müssen, um den individuellen Bedürfnissen gerecht werden zu können. In Abstimmung mit den Förderzentren sind individuelle Lehrpläne zu erstellen und neue Formen des Unterrichts zu entwickeln. Wenn die „Voraussetzungen stimmen, will die Oberschule gerne ihren Beitrag zu Inklusion leisten“, so Gerd Dyck abschließend.
Nach einem kurzen Einführungsvideo zur Definition erläuterten Frau Rinck und Herr Sager den Ansatz zur Inklusion aus Sicht der Rotenburger Werke. Momentan betreuen die Rotenburger Werken 1130 Personen mit Behinderung zumeist in der Kreisstadt selbst. 70 Personen davon kommen aus Visselhövede. Eine Anfrage aus Visselhövede sowie positive Erfahrungen mit bereits existierenden Wohnanlagen außerhalb von Rotenburg haben zur Überlegung geführt, in Visselhövede ein barrierefreies Wohnprojekt mit 24 Plätzen verwirklichen zu wollen. Eine Standortanalyse bestätigte Visselhövede als angenehmen Wohnort mit angemessener Infrastruktur für eine solche Einrichtung.
Für die Behinderten ergeben sich dadurch neue Wahlmöglichkeiten. Es ist beabsichtigt, das Angebot durch ambulante Betreuungs- und Beratungseinrichtungen zu erweitern. Auf ambulante Betreuung angewiesenen Personen wird dadurch der tägliche Weg nach Rotenburg erspart. Als Projektleiterin der Wohnanlage in Visselhövede erhofft sich Frau Rinck außerdem mehr Möglichkeiten zur Eingliederung von Behinderten in den Arbeitsprozess. Momentan liegt die Vermittlungsquote lediglich bei 3%. Persönliche Kontakte mit der Wirtschaft vor Ort können hier Vorurteile abbauen und zu neuen Formen der Zusammenarbeit führen.
Dass eine solche Wohnanlage auch höchsten architektonischen Ansprüchen genügt, zeigten Fotobeispiele der Anlage in Falkenberg. Die kleinen Wohneinheiten mit Einzelzimmern tragen erheblich zur Steigerung der Wohnqualität bei.
Abschließend berichteten Frau Rinck und Herr Sager von verschiedenen erfolgreichen Veranstaltungen der Rotenburger Werke mit Behinderten und Nichtbehinderten. „Zunächst sind die Berührungsängste noch groß. Im Laufe der Veranstaltung verschwinden sie aber immer mehr“; zieht Frau Rinck das Fazit und Herr Sager ergänzt: „Inklusion braucht Zeit und gelingt nur durch alltägliche Begegnung“.
Den Ausführungen schloss sich eine lebhafte Diskussion an, in der alle Anwesenden die Notwendigkeit von Inklusion ausdrücklich betonten. Immer wieder wurde aber auch Skepsis laut, ob den wortreichen Absichtserklärungen dann auch die entsprechenden Taten folgen. Kostenneutral, wie bereits von einigen Politikern gefordert, wird die Inklusion sicherlich nicht umgesetzt werden können. Frau Bürgermeisterin Strehse sieht Folgekosten auf die Stadt Visselhövede zukommen, die in ihrer Höhe noch in keiner Weise abzuschätzen sind. „Wir wollen gerne und aus Überzeugung den Weg der Inklusion gehen. Wir erwarten dabei aber die volle Unterstützung der Landespolitik“, brachte Frau Strehse die Diskussion auf den Punkt.